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CHRISTINE DE PIZANS OTHEA-BRIEF - 100 Bilder der Weisheit

Christine de Pizan war gerade einmal vier Jahre alt, als sie 1368 dem französischen König Karl V. als Tochter des venezianischen Mediziners, Astronomen und Astrologen Tomaso Benvenuto de Pizzano vorgestellt wurde. Tomaso war dem Ruf des Königs gefolgt und hatte seine ganze Familie nach Paris geholt. Fortan war Christine in das gebildete und kunstsinnige Umfeld des Hofes integriert. Es war die Zeit des Hundertjährigen Krieges, in dem England und Frankreich, ausgelöst durch Thronstreitigkeiten, einen verlustreichen Konflikt austrugen. Dennoch war Paris unter Karl V., dem Weisen, das geistige Zentrum von Kunst und Kultur Europas.

Die Herrscher des Hauses Valois zogen als Mäzene Künstler aus ganz Europa in die französische Metropole. Karl V. legte den Grundstein für eine der wertvollsten Bibliotheken der Welt, Jean Duc de Berry beauftragte Künstler mit der Herstellung der prachtvollsten Handschriften dieser Zeit, die Herzöge von Burgund rivalisierten als Förderer der Künste mit ihren französischen Vettern und die Pariser Goldschmiedekunst strahlte auf ganz Europa aus. Diese Welt prägte die heranwachsende Christine maßgeblich, sie gewann in der königlichen Familie wertvolle Gesprächspartner, die sie auf ihrem späteren Lebensweg begleiten sollten.

Wenigen Jahren des Glücks, Christine war verheiratet und Mutter dreier Kinder, folgten schwere Schicksalsschläge. Der Tod des Vaters und dann des Ehemannes zerstörten die gesicherte Existenz der gerade erst Fünfundzwanzigjährigen. Eine Witwe hatte damals nur wenige Möglichkeiten: Sie konnte in den Schoß der eigenen Familie zurückkehren, auf eine neuerliche Heirat hoffen oder ins Kloster gehen. Doch das waren keine Alternativen für die selbstbewusste junge Frau.

Christine de Pizan entschied sich für einen völlig anderen Weg: Sie begann, ihren Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen, erst als Kopistin, dann als Autorin eigener Werke. Dabei profitierte sie von der umfassenden Bildung, die sie, unterstützt durch ihren Vater, erworben hatte. Die Werke antiker Schriftsteller wie Homer, Ovid oder Vergil waren ihr vertraut, aber auch diejenigen mittelalterlicher Autoren wie Dante, Petrarca und Boccaccio. So konnte sie das Wissen ihrer Zeit im Umkreis des Hofes künstlerisch und literarisch perfekt umsetzen.

Christine de Pizans profunde Bildung war die Grundlage für ihre
vielfältige, schon früh auch in den Kreisen des Hofes anerkannte schriftstellerische Tätigkeit. Sie schrieb Liebeslyrik und Texte über Frömmigkeit, philosophische und moralische Belehrungen, Biographisches und Autobiographisches, sie schreckte auch nicht davor zurück, zu politischen Themen dezidiert schriftlich Stellung zu nehmen. Ihr reiches literarisches Schaffen widmete Christine de Pizan den höchsten Fürsten ihrer Umgebung, König Karl VI. und Königin Isabeau de Bavière, Ludwig von Orléans sowie den Herzögen Jean de Berry und Philipp von Burgund. Für die noblen, bibliophilen Herrschaften ließ sie herrlich geschmückte Handschriften ihrer eigenen
Werke anfertigen.

Vor allem zwei Werke begründeten den dichterischen Ruhm der Christine de Pizan: Noch heute ist sie wegen des Buchs von der Stadt der Frauen, Le Livre de la Cité des dames, weithin bekannt. Zu ihren Lebzeiten erfreute sich der Otheabrief aus dem Jahr 1400, Christine de Pizans Bildung war die Grundlage für eine vielfältige, schon früh auch in den Kreisen des Hofes anerkannte schriftstellerische Tätigkeit. Sie schrieb Liebeslyrik und Texte der Frömmigkeit, philosophische und moralische Belehrungen, Biographisches und Autobiographisches, sie schreckte auch nicht davor zurück, zu politischen Themen schriftlich Stellung zu nehmen.

Christine de Pizan zeigte sich hier als eine der frühesten Vertreterinnen eines Bildungsanspruchs auch für Frauen. Der Brief einer fiktiven Göttin der Weisheit - Othea - an den fünfzehnjährigen trojanischen Helden Hektor machte die Dichterin zur Erzieherin ganzer Generationen. Mit hundert Beispielen, die dem trojanischen Sagenkreis sowie der antiken Mythologie und Dichtung entnommen sind - eine besonders wichtige Rolle spielen Ovids Metamorphosen - werden Ratschläge für ein rechtschaffenes Leben begründet. Damit war Christine de Pizan literarisch auf der Höhe ihrer Zeit: Antike Autoren, allen voran Vergil und Ovid, Sagen und Mythologie erfreuten sich seit dem 13. Jahrhundert immer größerer Beliebtheit. Die Persönlichkeiten der heidnischen Antike schienen sich in ganz besonderer Weise dafür zu eignen, die Ethik einer christlichen Welt zu vertiefen. So verlieh Christine de Pizan ihren erzieherischen Grundsätzen den nötigen Nachdruck und vermittelte den Leserinnen und Lesern ein klares moralisches Weltbild.

Noch unter Christine de Pizans Aufsicht entstanden Anfang des 15. Jahrhunderts prachtvolle
Bilderhandschriften von diesem Werk; teilweise schrieb die Dichterin die Texte selbst, viele der Miniaturen wurden nach ihren Anweisungen gestaltet. Der Otheabrief, diese hundert Bilder der Weisheit, ist das am reichsten illustrierte Opus der außergewöhnlichen Dichterin, welches das ganze 15. Jahrhundert hindurch Buchkünstler zu stets sich steigernden Höchstleistungen anspornte. Das wohl schönste illustrierte Beispiel dieses klar gegliederten, spannenden Textes ist unzweifelhaft die Bilderhandschrift aus der Königlichen Bibliothek in Den Haag, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gemalt und geschrieben wurde. Sie besticht
nicht nur durch eine abwechslungsreiche Szenenfolge, sondern auch durch die leuchtenden Farben der Miniaturen, deren Anzahl die Blattzahl des Codex noch übersteigt: Ein Bilderbuch also, in dem man, auch ohne den Text zu lesen, die reiche schöpferische Kraft der Christine de Pizan erleben kann.

Auftraggeber für diese Handschrift, aus der im Lauf der Jahrhunderte zwei Miniaturen abhanden gekommen sind, ist unzweifelhaft ein hoher Adliger Frankreichs gewesen. Ob es sich dabei um Jacques d’Armagnac oder um Charles de France, Herzog von Berry, handelte, wird wohl immer im Dunkeln bleiben. Anonym ist auch der großartige Meister der 98 Miniaturen. Seine hohe malerische Qualität weist eindeutig auf das künstlerische Umfeld von Barthélemy d’Eyck. Unverkennbar sind die Anklänge an die Formensprache des Piccolomini- Meisters und des

Jouvenel-Kreises, auch Parallelen zur Kunst des Jean Fouquet sind deutlich zu erkennen. Der Schöpfer dieser Bilderhandschrift gehört zu den ganz großen Malern seiner Zeit.

Lebhafte Farben, reicher Goldschmuck und zartes Silber kennzeichnen die 98 Illustrationen dieser Handschrift und geben den Lebensweisheiten der Christine de Pizan das verdiente Kolorit. Meist mehr als die Hälfte der Seite füllende Miniaturen illustrieren dieses Buch, das zu einer Zeit entstand, als Tafelbilder und Buchmalerei erstmals in direkte Konkurrenz zueinander traten.
Der Othea-Brief, diese hundert Bilder der Weisheit, ist das am reichsten illustrierte Werk der außergewöhnlichen Dichterin, welches das ganze 15. Jahrhundert hindurch Buchkünstler zu stets sich steigernden Höchstleistungen anspornte.

Fol.92v und Circe, Histoire 98, fol. 93r Medea, Histoire 58, fol. 54v
Detail aus Perseus und Andromeda, Histoire 5, fol. 9v
Diana, die Göttin der Jagd, Histoire 63, fol. 59r

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